Politisch korrekte Begriffe für Menschen mit Behinderung

 

Nach dem Theaterschriftsteller Florian Zeller leben wir in einer Zeit der Euphemismen, einer Zeit des Verharmlosens und Verschweigens. Ein Euphemismus ist eine vertuschende, beschönigende Formulierung. Ein „Wir geben dem Ganzen einen anderen Ausdruck, dann ist es nicht mehr so schlimm, und wir ändern vielleicht was!“

 

Vor vielen Jahren lernte ich durch meinen Chef den damaligen Sozialminister von Niedersachsen kennen. Er, sowie sein Ministerialdirigent, sprachen in der gemeinsamen Sitzung stets von „Überpädagogisierung“ in den Behinderteneinrichtungen und man brauche ein neues „Konzept“. Nach der Sitzung erklärte mir mein Chef:“ Damit meint der Minister, er habe für weiteres Personal kein Geld mehr!“

 

Nicht erst seitdem mißtraue ich jeder Form von Begriffswandel. Im psycholinguistischen Seminar während des Studiums haben wir  gelernt, dass Sprache auch Macht bedeutet. (Die Psycholinguistik, auch Sprachpsychologie, Psychologie der Sprache genannt, ist die Wissenschaft von der menschlichen Sprachfähigkeit). Mächtige haben das Sagen. Machtlose haben nichts zu sagen. Mit Sprache bringen wir die Welt "auf den Begriff"; mit ihr regeln wir weitgehend unsere sozialen Beziehungen. Begriffe, in denen wir denken, prägen das Bild von der Wirklichkeit und beeinflussen unser Verhalten. Wir sprechen nicht nur, sondern setzen die Sprache auch für uns ein. 

 

Genauso wirkt die Sprache (in) der Öffentlichkeit, in der Politik; sie wirkt also zweifach: als anonyme, kulturelle Struktur und als rhetorische Praxis. Politisches Reden und Schreiben in Demokratien ist weit überwiegend darauf ausgerichtet, andere argumentativ zu überzeugen und vorhandene Überzeugungen zu bestärken. Im GG heißt es im Artikel 5:“ Zensur findet nicht statt.“

 

Logisch und verständlich, dass politische Systeme versuchen, über Sprache, über politisch korrektes Denken und Begriffe Einfluß auf das Denken der Menschen zu gewinnen.

 

Eine erste, allgemeinere Definition von political correctness (PC) lautet: PC ist das Gängeln und Vorschreiben von Denken und Handeln einer Mehrheit durch eine Minderheit zu erzieherischen Zwecken.

(PC) kommt aus den USA, wo in einer multiethnischen Gesellschaft verschiedene Gruppen um Anerkennung und Repräsentation kämpfen. Um den traditionell Benachteiligten unter ihnen zu helfen, wurden zunächst praktische Gleichstellungsmaßnahmen durch „positive Diskriminierung“ geschaffen, vor allem durch Quotensysteme im Erziehungssystem und bei der Postenvergabe. Als diese nicht ausreichend erschienen, der Diskriminierung von Minderheiten durch die Mehrheitskultur wirksam zu begegnen, entwickelte sich vor allem in der akademischen Welt der Ost- und Westküste ein weit verzweigtes System der vermeintlichen Rücksicht auf Empfindlichkeiten von Minderheiten und Außenseitern durch sprachliche Wendungen. Es sollte nicht mehr der weiße, heterosexuelle, dem anglosächsischen Kulturkreis zugehörige Mann das Maß der Dinge sein.

Aber gerade in den USA hat die Geschichte der Sklaverei und die Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung gezeigt, dass die Vorbehalte gegenüber Schwarze nach der Befreiung eher zugenommen haben. Die geschichtswissenschaftliche Auseinandersetzung hat gezeigt: Eine rechtliche und politische Gleichstellung führt nicht weiter, wenn es an Mitleid fehlt und wenn durch zunehmende Bürokratisierung - immer mehr Regeln für einzelne Gruppen - Menschen ausgegrenzt werden, wie beispw. in den USA  Amerikaner asiatischen Ursprungs bei der Vergabe von Studienplätze.

Auch bei M. m. B. darf das Wahrnehmen  des Leids - wie von mir oft gefordert -  nicht verloren gehen.

 

Kern der PC ist es, Bezeichnungen oder Namen für jemanden nicht zu verwenden, die dieser selbst nicht auf sich angewendet haben will, weil sie ihn verletzen, beleidigen oder ausgrenzen.

 

Dieser sensible Umgang mit Begriffen, diese Rücksichtnahme auf die Menschenwürde  des nächsten Menschen, wer oder was immer er auch sei, ist zunächst als eine zutiefst humane Einstellung zu werten, die auch im Grundgesetz verankert wurde. Menschen mit B. auch begrifflich als Mitmenschen zu betrachten  und behandeln, kann einen Wandel zu mehr mitmenschlichen Umgang mit ihnen fördern und steht immer am Anfang eines Veränderungsprozesses. Es macht also Sinn, auch hier die Macht der Sprache zu berücksichtigen und zu kontrollieren.

 

Die eiserne Konsequenz und die moralisch übertriebene Ernsthaftigkeit dagegen, mit der die Vertreter der political correctness ihre Sache in den letzten Jahren betrieben, hat auch zu Auswüchsen geführt, von denen ich glaube, dass sie (auch) das Ergebnis von Verdrängung der (nicht erträglichen) Realität ist. So empfinden viele MA die Unterscheidung zwischen „Integration“ und „Teilhabe“ als rein theoretisch und künstlich, manche sind gar der Meinung, Teilhabe würde M. m. B. (besonders M. m. einer psychischen oder geistigen Behinderung) im Stich lassen und beurteilen das  Integrationskonzept als viel hilfreicher und praktischer. 

Machen wir uns nichts vor: das Teilhabekonzept ist politisch gewollt.  Obwohl die Forschungsergebnisse widersprüchlich sind, es finden sich  sowohl Ergebnisse, die das Teilhabekonzept als praxistauglich bestätigen (zumeist nur bei M. mit einer Körperbehinderung), als auch ernüchternde Ergebnisse, die zeigen, dass das Teilhabekonzept bspw. in der Schule die Leistungen von nichtbehinderten und behinderten Schulkindern gleichermaßen verschlechterten, wird dieses Konzept umgesetzt.

Inklusion ist eine Art Heilslehre geworden. (Bitte einmal  "Prof. Bernd Ahrbeck" bei Google eingeben. Ahrbeck:" Beschwörungen ersetzen Beweise". Erschreckend ist die Feindseligkeit, die den Kritikern des Teilhabekonzepts entgegenschlägt). Aus der Gemeinschaft der Schule ergibt sich zwangsläufig keine Gemeinschaft im Erwachsenenleben. Letzteres ist nicht inklusiv. Gesellschaften, nicht nur in unseren entwickelten Gesellschaften Europas, sind komplex, hochgradig differenziert und gespalten. Inklusion heißt -  stadtsoziologisch gesehen -  "Vermischung". Das Gegenteil davon ist Segregation, Entmischung, soziale Absonderung. Inklusionsbefürworter meinen, die räumliche und menschliche Nähe zwischen M. m. B. und M. o. B. würden das Wissen übereinander vermehren und dadurch zu weniger Vorurteile führen. Das ist ein naiver Standpunkt. Die Ergebnisse der Stadtsoziologie (siehe z. B. die Forschungen von W. SIEBEL) zeigen, dass Menschen mit einem Migrationshintergrund oft besser durch Segregation integriert werden können, wenn sie die sozialen Hilfsnetze der Migranten nutzen. Unterschiedliche Lebensstile (z.B. Rolle der Frau etc.) führen sehr oft zu Spannungen. Negative Entwicklungen sind eher durch die soziale Situation wie Armut begründet. (Siehe auch der "Spätzlekrieg" in Berlin).

Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, H. Hüppke,  spricht immer nur von "sogenannten Behinderten." Als könne man mit der Änderung oder der Auflösung der Begriffe auch die gesellschaftlichen Bedingungen,  die Behinderung und das damit verbundene inneliegende Leid auflösen. Ich empfinde diesen Euphemismus als wenig lebensnah und zynisch.

An der Teilhabediskussion stört mich nicht dieses interessante Konzept, sondern die - politisch beeinflußte und gesteuerte -  Konzeptgläubigkeit Priorisierung eines einzigen sozialen Modells.

 

Schon vor über 100 Jahren hat S. Freund in seiner sozialpsychologischen Theorie (denn das war die Psychoanalyse am Anfang) die Interaktion zwischen dem Individuum und den gesellschaftlichen Prozessen beschrieben und deutlich gemacht, wie schädlich gesellschaftliche Vorstellungen (z. B. über Sexualität) auf den Menschen wirken können. Psychologische Erkenntnisse und sozialpolitische (korrekte) Vorstellungen können, müssen aber nicht zwangsläufig zusammenpassen!

 

Beispiele:

Beispiel 1:

Viele M. m. B. können nicht teilhaben, weil die Störung es nicht zuläßt. Firmen, die inzwischen M. mit Autismus beim Testen von PC-Programmen einstellen, haben für die autistischen MA, denen der soziale Kontakt eine Qual ist, eigene Büros und eigene Arbeitszeiten eingerichtet,  und sie müssen auch nicht in der Kantine essen. Sie bleiben (jeder) für sich: eine klassische Integration!

 

Beispiel 2:

Betreuungsrecht. Oft verändern neue Begriffe nichts, sondern es entsteht durch andere Inhalte bzw. Faktoren, die man oft nicht voraussehen kann, eine andere, nachteilige Realität. Seit 1992 spricht man nicht mehr von „Entmündigung“, sondern von „Betreuung“. Seit Einführung des neuen Gesetzes hat sich die Zahl der Betreuten verdreifacht! Zahlreiche Einrichtungen dringen auf Betreuungen, damit sie abgesichert sind. Für Anwälte ist es ein lohnendes Geschäft und auch die Angehörigen verfolgen ihre eigenen Interessen. Zudem kritisieren Juristen, dass mit dem Betreuungsrecht stärker in die Freiheitsrechte der Bürger eingegriffen werde als bei Strafgefangenen. Der Begriff klingt humaner, ist die Wirklichkeit hinter diesem Begriff es auch?

 

Beispiel 3:

Eine Zensur findet nicht statt, oder doch? Bekannte deutsche Verlage haben angekündigt, in Kinderbüchern  verletzende Begriffe durch neutrale zu ersetzen. „Dornröschen“ ist sexistisch“, „Scheich“ islamfeindlich und die „Negerprinzessin“ in „Pippi Langstrumpf“ ist ein rassistischer Begriff. – Und Büchertitel wie „Die schwarze Depression“ sollen auch verschwinden, wegen des Begriffs „schwarz“. Auf die Rezeption von den Zusammenhängen zwischen Geschichte, Zeitgeist, gesellschaftlicher Kontext und Literatur will ich hier nicht eingehen (nur nebenbei für Korrekheits-Jacobiner: In, z. B., Haiti ist der Begriff "Neger" nicht diskriminierend) . Nur auf die Behauptung, solche diskriminierenden Begriffe schadeten der Kinderseele. 

Um Gottes und Astrid Lindgrens Willen, was für einen Humbug! Die Ergebnisse der Entwicklungspsychologie sind sehr eindeutig. Dass eine Kinderseele ein weißes Blatt sei, ist  schon seit 100 Jahren widerlegt, und alle Eltern können bezeugen, wie unterschiedlich ihre Kinder von Geburt an sind. Von Kinderbüchern allein wird kein Menschenbild geprägt. Die Bedeutung der Inhalte wird ihnen von den Eltern gegeben - oder leider auch nicht. Unter 4 Jahren versteht kein Kind das Diskriminierungspotential des beisp. Begriffs „Neger“, es wird dadurch nicht zum Rassisten. Ein „Neger“ ist für sie etwas Exotisches, Andersartiges, wonach Kinder aufgrund des Orientierungsreflexes geradezu lechzen und ihre Aufmerksamkeit richten. Getilgte Figuren, abgeschliffene, schablonenhafte und geglättete Geschichten zerstören Phantasie und Kreativität. Vor einem Neger fürchtet sich kein Kind, die Erwachsenen projizieren das hinein.

 

Mit der Bildung von Moralvorstellungen bei Kindern, nach dem 4. Jahr also, erklären die Eltern nach und nach auch andere Aspekte, wie, dass es Vorurteile gibt und welche Bedeutung Religion und Hautfarbe haben (können). Das ist ihre und unsere Aufgabe.

Und ja, das Europa von A. Lindgren war rassistischer als das Europa von heute. Den Begriff „Neger“ rassistisch zu finden ist kein Gegensatz zu der Forderung, rassistische Begriffe in Kunst und Literatur nicht zu entfernen, denn sie zeigen uns, wie die Welt damals war.

Auch Einrichtungen  für M. m. B. werden von der PC nicht verschont. Inzwischen melden sich immer mehr Journalisten zu Wort, die von Leitungen von Einrichtungen für M. m. B. immer neue Begriffe für Behinderung genannt bekommen, die in ihrer Gequältheit und Bagatellisierung eher dazu geeignet sind, M. m. B. lächerlich zu machen. So wird heute z. B. eine Verhaltensstörung als „verhaltenskreativ“ bezeichnet. Ich habe in meiner Arbeit noch nie einen M. m. B. kennengelernt, der seine Behinderung als Bereicherung erlebt hätte. Mehrere haben ihre soziale Stelle problematisiert, aber die Diskussion der korrekten Bezeichnung eines M. m. B. ging an ihren Bedürfnissen vorbei: sie hatte nichts mit ihren wirklichen Sorgen zu tun.  

Wer Tics, Zwänge, psychomotorische Unruhe oder gar Selbstbeschädigungen oder andere Störungen als kreativ bezeichnet, den kann ich nur als zynisch bezeichnen. „Satire übertreibt“, bemerkte einmal K. Tucholsky. Aber ist es eine  Übertreibung, wenn ein Satiriker – auf die PC eingehend - neulich für Menschen mit Kleinwuchs einen neuen Begriff, einen typischen Euphemismus, erfand: „Vertikal Herausgeforderte“? 

Eine Leserzuschrift einer wichtigen Wochenzeitung meinte jüngst zu diesen sprachlichen Verirrungen:“ Wer Menschen mit Behinderung so („verhaltenskreativ“) benennt, ist ein Mensch mit Bescheuerung.“

 

Was liegt dem Übermaß der PC also -  sozial und psychisch - zugrunde?

Vorurteile bzw. vorgefertigte Meinungen entsprechen der, evolutionär (physiologisch), bedingten Vereinfachung der Wahrnehmung (Datenkompression) von Informationen. Nur  (mir) Wichtiges wird durchgelassen und mit einer Bewertung versehen, die dann auch fehlerhaft sein kann, weil es schnell gehen muß. Nur so können wir auf Gefahren rasch reagieren. Die Bewertung generiert die Einstellung (Meinung). Dadurch kann ein Menge Datenmaterial verarbeitet werden, was die Alltagsbewältigung erleichtert - und die Entwicklung von Vorurteilen, wobei die ersten Eindrücke fast immer Vor-Urteile sind und von unseren Erfahrungen getragen werden. Diese müssen mühsam verändert werden, da hilft eine Sprachkosmetik nicht.

PC vereinfacht die Wahrnehmung und gibt einfache Lösungen vor.

 

Zum zweiten werden hier handfeste Meinungen durchgesetzt, in dem z. B. Filme, Theaterstücke oder andere mißliebige Meinungen unterdrückt werden. Dahinter steht ein Ringen um Meinungsdominanz. Die Dominanzverhältnisse können sehr unterschiedlich sein. Manchmal ist die Dominanz bestimmter sozial-politischer Vorstellungen relativ stabil ausgeprägt. Und es gibt andere Zeiten, in denen eine dominierende Meinung in Frage gestellt wird, in der es vorübergehend ein Schwanken, ein Hin und Her gibt, bis eine neue Meinung dominant geworden ist. Möglicherweise, so vermutet der Schriftsteller Umberto Eco („Der Name der Rose“), ist die PC überhaupt nur dazu da, das zugrunde liegende Problem (z. B. der Behinderung, der Ref.), weil es ungelöst ist, sprachlich zu kaschieren. PC-Argumente werden - zum anderen - (auch) narzisstisch eingesetzt: es wimmelt von Opfern, die andere für die eigenen schlechten Gefühle einspannen wollen und glauben, für das eigene Selbst sei nur die Gesellschaft verantwortlich; man ist nur das, was die (diskriminierende) Gesellschaft aus einem macht.

 

Auf die M. m. B. ist die PC übergesprungen, sie hat auch Elemente der Antipsychiatrie der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts. Der amerikanische Psychiater Thomas Szasz war der radikalste Verfechter dieses Ansatzes. Störungen und Behinderungen haben danach als Ursache gesellschaftliche Strukturen und die Existenz psychiatrischer Kliniken. Das nannte man „Soziale Bedingtheit der psychischen Krankheit“. Szasz hielt z. B. letztlich die Diagnose „Schizophrenie“ für eine soziale Erfindung, die so real nicht existiere. Diese absurde Auffassung ist Theorie-Geschichte. Behinderungen als "sogenannte Behinderungen" zu klassifizieren erinnert stark an den realitätsfernen Ansatz von Szasz.

 

Ich weiß noch, als ich während eines klinischen Praktikums in einer psychiatrischen Klinik zum ersten Mal einen M. m. Schizophrenie, einem Studenten aus sozial stabilen  Verhältnissen ohne biografische Hinweise auf Traumata etc. gegenüber saß, wie ich wie von Donner gerührt war. Der Patient war völlig, so der damalige Ausdruck des Oberarztes, der uns Studenten betreute, ver-rückt. Sein Lehrer, seine (liebevollen) Eltern, sein Oberarzt, seine Freundin: alle wollten ihn umbringen, und im Fernsehen sei das schon bekannt gegeben worden. Das klinische Praktikum war für viele ein Schock. So viel Realität (Stoffwechselerkrankung des Gehirns als Ursache von psychischen Erkrankungen) hatten wir, von den antipsychiatrischen Theorien beeinflußt,  nicht erwartet.

 

Die Auffassung der rein sozialbedingten Ursache psychischer Störungen hat die Neurobiologie inzwischen gründlich widerlegt, und sie konnte auch die Interaktionsprozesse zwischen Nervensystem und sozialer Umwelt (sozialer Streß), den biosozialen Prozeß,  aufzeigen, deshalb wird die Ursache von Störungen innerhalb der Teilhabediskussion kaum diskutiert, weil die biologische Bedingtheit von Behinderungen - und nicht nur diese - die Begrenztheit der M. m. B. und anderer Menschen  aufzeigt, die das Teilhabekonzept zu wenig berücksichtigt.

 

In Behinderteninstitutionen fand ich nicht selten eine Weigerung, sich mit dem Leid, welches oft mit einer Behinderung verbunden ist,  auseinander setzen zu wollen, selbst bei denen, die versuchten, moderne, internationale Standards umzusetzen. Auch spielen, jedoch nicht immer, finanzielle Hintergründe eine Rolle. Manchmal wird auch nur das nachgeleiert, was politisch vorgegeben wird, um entsprechende Gelder nicht zu gefährden oder einfach aus Bequemlichkeit. Der eingangs erwähnte Minister kritisierte vordergründig pädagogische Inhalte, meinte aber  - das Geld. Menschen suchen stets nur die Verifikation, die Bestätigung, ihrer Hypothesen oder dass, was alle sagen.

 

Wenn der vermeintlich rücksichtsvolle Sprachgebrauch auch auf sogenannte „falsche“ und „richtige“ psychologische, therapeutische oder sozialpädagogische Inhalte ausgedehnt wird, gerät die politische Korrektheit zu ihrer eigenen Bedrohung und zu einer Gefahr für die ehrliche Auseinandersetzung mit der Situation (dem Leid z. B.) und, generell, mit der Meinungsfreiheit. Diese neue, andere Dimension bekommt die politische Korrektheit aber dann, wenn sie nicht mehr nur einen neuen Sprachgebrauch zur Unterstützung von M. m. B. einführen will, der sie zu mehr Teilhabe verhelfen soll, sondern wenn sie Meinungen als nicht zulässig erklärt, die jemand über Behinderung, Störungszusammenhänge, Begrenzungen durch die Behinderung oder – generell - über Minderheiten, Schwache oder ethnische und religiöse Gruppen oder auch Religionen hat und äußern möchte.

Exemplarische Fälle dafür kann man inzwischen in der Presse nachlesen.

 

Bitten beachten Sie: Die Wahrheit ergibt sich für uns Menschen aus den Fakten der Realität. Goethe hat sich in seinen Dramen oft mit dem Verhältnis zwischen  „Ideal“ und „Wirklichkeit“ beschäftigt. Nach Goethe verkörpert ein Ideal keinen absoluten Maßstab, es ist der Kausalität und damit einem Zeitfaktor unterworfen. Durch den Wandel historischer und sozialer Bedingungen (im Umgang mit M. m. B.) muss zwischen Ideal (vollständige Teilhabe) und Wirklichkeit (Begrenzungen des Menschen und Begrenzungen durch die Gesellschaft) ein wechselseitiger, kommunikativer Prozess stattfinden, in dem das Ideal stets auf Gültigkeit anhand von Fakten geprüft wird. So können wir z. B. sehen, dass viele M. ohne B. auch keine Teilhabe erleben.

 

Meine Erfahrung ist die, dass das Zusammenleben – und Arbeiten mit den M. m. B. von uns Authentizität in allen Bezügen erwartet. Wenn sie die Realität ihrer Behinderung ertragen müssen, können wir uns nicht davonstehlen. Außerdem kann ich mir eine gute Arbeit mit M. m. B., ja, eine gute berufliche Leistung nicht vorstellen, die nur von PC getragen wird und wo die Behinderung oder die der Behinderung zugrundeliegende Störung nicht beachtet wird. Wie kann ohne eine solche Information eine individuumgerechte Hilfe erfolgen?

Bleiben Sie also skeptisch gegen jede Form von begrifflicher Vertuschung. Denn damit, und das ist das wichtigste, können Sie nicht optimal individuell arbeiten.

 

Kommen wir nun zu dem Verhältnis  zwischen den aktuellen Konzepten „Integration“ und „Teilhabe“. Das Teilhabekonzept hat den Anspruch, das Integrationskonzept abzulösen. Ich halte das auch für eine sprachliche und konzeptuelle Vertuschung. Teilhabe wird im Gegensatz zur  Integration gebracht, eine unzulässige Bildung eines vermeintlichen Gegensatzes! Integration ist plötzlich ein Problem. Das ist typisch für medial bestimmte Politikprozesse, die heute auch stark vom Netz bestimmt werden. Es wird eine Lösung (Teilhabe) zu einem nicht bestehendem Problem (Integration) suggeriert. (Ein brillantes Buch über solche Internetprozesse schrieb E. Morozov, sehr lesenswert).

 

Wir sprechen oft von Barrierefreiheit, konkret wie auch als Symbol für soziale Hindernisse. Aber bedenken Sie: Der oft zitierte Bürgersteig oder Ähnliches ist für den Rollstuhlfahrer sehr hinderlich, aber dem  M. mit einer Sehbehinderung (ich habe jahrelang mit einem blinden Schachspieler im Verein gespielt und viel von ihm gelernt) fehlt dann ein wichtiges Orientierungsmerkmal, er empfindet das Fehlen eines Bürgersteiges als Barriere! Globale Konzepte, die oft nur Sprachkosmetik sind, helfen da  alleine nicht weiter, es gilt, individuelle Lösungen zu finden, die praktikabel sind.

 

Mein Ratschlag: 

 

a) Helfen sie M. m. stärkerer geistiger, psychischer oder körperlicher Behinderung mit der Methode der Integration: also mehr Betreuung und Hilfestellung. Erfahrungsgemäß müssen auch besondere Förderungsprogramme, bei der Teilhabekonzeption und bereits in einigen Bundesländer dogmatisch unerwünscht, angeboten und bei Bedarf durchgeführt werden. Eine gelungene Integration kann für viele M. m. B. die Voraussetzung für eine gelungene Teilhabe sein. Psychologen kennen aus vielen Gesprächen etc., dass viele M. m. B. ihre Betreuungssituation schätzen und nicht verändern wollen, nicht weil sie generell bequem, sondern mit der Teilhabe leicht überfordert, insbesondere bei der sozialen Kommunikation, sind. Oft finden wir langandauernde Probleme im Umgang mit Geld oder Vereinsamung. Besprechen Sie alles mit dem M. m. B.  und finden Sie heraus, was er – und nicht ein anderer – wirklich will, was er braucht und was umsetzbar ist.

 

b) Bei M. mit weniger ausgeprägten Störungen ist die Teilhabe mit weniger Unterstützung das Ziel. Dabei ist die erste Phase sehr kritisch, da im ersten Hochgefühl bspw. bei einem Auszug, wenn der M. m. B. im komplexen Alltag angekommen ist,  die Schwierigkeiten unterschätz werden. So kaufte ein M. m. B. in der ersten Woche in seiner neuen Wohnung einen teuren Computer. Er hatte danach kein Geld mehr für das Alltäglich (was M. o. B. ja auch erleben).

Es kommt somit darauf an, die Hilfen nur langsam und immer mit dem Blick auf die Möglichkeiten des M. m. B. abzubauen.

Sprache kann erhellen, entlarven oder vertuschen. Wenn Banker ihren Arbeitsplatz, die Bank, „Honigtopf“ nennen, entlarven sie sich - wenn auch aus anderen Gründen -  ebenso wie jene, die eine Störung als „kreativ“ bezeichnen.  Sie vergessen dabei, dass es in der Psychologie der Begriffe, hier in der Arbeit mit M. m. B., weniger ums Erklären und Benennen, sondern ums Erleben geht.

 

Zum Schluß möchte ich den Autor Harald Martenstein, ein Kolumnist, der sich hintergründig und immer auf den Punkt mit PC beschäftigt, zu Wort kommen lassen (ZEITMAGAZIN, 3, 2013, S. 6). M. m. B. eines VHS-Kurses schrieben ihm, sie möchten, obwohl der Begriff "M. mit Behinderung" bislang noch als korrekt gegolten hat, nicht mehr so genannt werden, da dieser Begriff inzwischen ein Schimpfwort sei. Sie plädierten deshalb für den neuen Begriff  "Menschen mit Handicap".

 

MARTENSTEIN schreibt dazu:

"Ich werde, wenn wir uns treffen, gerne diese Bezeichnung verwenden. Aber ich fürchte, dass auch "Menschen mit Handicap", falls diese Formulierung sich in Deutschland durchsetzt, sehr bald als Schimpfwort eingesetzt wird. Dann können Sie wieder ein neues Wort finden, und wieder eines, aber das nützt überhaupt nichts. Sie können Vorurteile und Hass und negative Einstellungen nicht abschaffen, indem Sie neue Bezeichnungen einführen. Wenn es so einfach wäre - wunderbar. Vorurteile sind aber kein sprachliches Problem. Es liegt nicht auf der Zunge, es steckt im Kopf."

 

Neuhaus, März 2013

Dr. Klaus Gehling