Zur Psychologie der Enuresis und besonders der Enkopresis bei einer Frau mit Behinderung

 

 

 

Das Problem:

Seit Jahren kotete Frau X ein (Diagnose: geistige Behinderung mittleren Grades), sehr viel mehr als sie einnässte, deshalb wurde der Fokus auf die Enkopresis gelegt.  Das Ziel bestand darin, herauszufinden, welche Art der Enkopresis vorlag und welche Behandlungs­mögl­ichkeiten es gibt. Unter anderem wurde auch ein Fragebogen zur „Enkopresis“ durch­geführt. Dieser Fragebogen wurde folgender Quelle entnommen: Gontard, A. von (2004). „Enkopresis: Erscheinungsformen - Diagnostik -Therapie“, Kohlhammer, Stuttgart.

 

Zur Diagnostik und Klassifikation der Enkopresis:

Zur Klassifikation, Leitsymptome, Schweregradeinteilung etc. wurde die AWMF (ein Zusammenschluß medizinischer Fachgesellschaften) genommen.

 

Die Enkopresis (und die Enuresis) wird als psychiatrische Diagnose und nicht als Entwicklungsstörung oder als körperliche Erkrankung klassifiziert. Sie wird grund­sätz­lich als willkürliches und unwillkürliches Einkoten ab einem Alter von vier Jahren nach einem Ausschluss organischer Ursachen, wie z. B. Spinabifida oder andere organische Erkrankungen, definiert. Es muss mindestens einmal pro Monat auftreten und für eine Dauer von drei Monaten nach dem geltenden Diagnostiksystem der Psychologie und  Psychiatrie (DSM IV) und sechs Monaten nach ICD 10 (Psychiatrie und Medizin) be­stehen. Nach ICD 10 sollte eine Enkopresis bei Vorhandensein von anderen psychiatrischen Störungen nur dann diagnostiziert werden, wenn sie „das domi­nie­ren­de Phänomen darstellt“. Bei der Komorbidität, also dem Zusammentreffen von Enkopresis und Enuresis, sollte die Codierung der Enkopresis Vorrang haben. Des­halb wurde im vorliegenden Falle auf die Enkopresis - wie oben bereits erwähnt - fokussiert.

 

Typisch für die Enkopresis ist das gleich­zeitige Auftreten mehrerer Störungen, die nicht unbedingt kausal miteinander ver­knüpftsein müssen. Bei einer mittelgradigen geistigen Be­hinderung ist die Frage, ob eine  Enkopresis überhaupt diagnostiziert werden sollte. Sicher­lich gehört sie  zu dem Spektrum der zitierten Diagnose.

 

Die Leitsymptome sind also nach AWMF ein unwillkürliches und willkürliches Einkoten. Der Schweregrad wird festgelegt nach

-         Häufigkeit der Tage (seltener Nächte) mit Einkotepisoden pro Woche

-         ggf. durchschnittlicher Häufigkeit des Einkotens pro Tag bzw. Nacht

-         Einkotmenge (nur Schmieren oder Haufen).

 

Die meisten Kinder koten tagsüber ein, nächtliches Einkoten ist die seltene Aus­nahme und erfordert eine genaue medizinische Abklärung wegen möglicher orga­nischer Ursachen. Auch bei Erwachsenen tritt das Einkoten zumeist tagsüber ein, wie auch bei Frau X. Oft liegen auch Verstopfungen vor (Obstipation). Es gibt also eine Enkopresis mit Obstipation, ohne Obstipation, ein Toilettenver­weigerungs­syndrom und eine Toilettenphobie. In diesem Fall lag eine Enkopresis ohne Verstopfung vor, die eine psychische Begleitstörung der Haupt­störung „Geistige Behinderung“ darstellt.

 

Es gibt keine enkopresis-typische Psychopathologie; das Spektrum der beglei­ten­den psychischen Störungen ist heterogen. Lediglich emotionale Störungen über­wiegen leicht. Die Störung des Sozialverhaltens und hyperkinetische Störungen sind am zweithäufigsten. Die Enkopresis tritt häufig nach sexuellem Missbrauch auf. Menschen mit einer geistigen Behinderung koten häufiger ein. Dennoch ist zu betonen, dass über 50 % der Kinder keine weiteren psychischen Störungen haben und auch die Familien keine pathologischen Interaktionen zeigen.

 

Welche Behandlungen empfiehlt die AMWF?

Als erster Schritt besteht die Behandlung in der Psychoedukation, d. h. in der In­for­mationsvermittlung „Was ist eine Enuresis bzw. Enkopresis?“ Es sollte insbesondere die Verbindung zwischen Retention  (Zurückhalten des Kots) und Einkoten erklärt werden, d. h. Menschen, die einkoten, halten oft willkürlich den Kot zurück. Außerdem sollten Ängste und Sorgen eruiert und mit einbezogen werden.

 

Desinpaktion

Die initiale Entleerung der intraabdominellen Stuhlmassen wird als Desinpaktion be­zeichnet. Falls eine Obstipation (Verstopfung) vorliegt und Stuhl reteniert wird, muss diese am Anfang der Therapie entfernt werden, meistens mit phosphathaltigen Klis­tieren.

 

Erhaltungstherapie

Die jErhaltungstherapie ist meistens die Therapie der Wahl und hat zwei Ziele:

  1. zu verhindern, dass erneut Stuhlmassen reakkumiliert werden,
  2. Normalisierung des Stuhlverhaltens.

 

Diese Erhaltungstherapie sollte lange genug fortgesetzt werden, meistens zwischen sechs und 24 Monaten.

 

Verhaltenstherapeutische Bausteine

Bei der Verhaltenstherapie ist das Stuhltraining von entscheidender Bedeutung. Da­bei werden die Menschen mit Behinderung aufgefordert, sich dreimal am Tag nach den Mahlzeiten auf die Toilette zu setzen. Diese Zeiten sind besonders günstig, da  die Entleerungsreflexe des Darms dann am aktivsten sind. Die Toilettengänge sollten mög­­lichst positiv gestaltet werden. Das konnte man damit erreichen, das Frau X auf dem Klo etwas machte, was sie gerne hat (Comics lesen). Auch die Gabe von Süßig­­keiten oder anderen Dingen wirkt positiv verstärkend.

 

Wichtig in Verbindung mit dieser Verhaltens­therapie ist die Gabe von oralem Laxantin. Dieses ist sehr wirksam bei Enkopresis mit Verstopfung. Ein Mittel der ersten Wahl ist das Polyethylenglykol (PEG). Das zweite Mittel der Wahl ist Lakto­lose, das in Pulverform gegeben werden kann. Obwohl Laktolose langfristig gut toleriert wird, sind Blähungen, abdomenelle Bauchschmerzen und Durchfälle möglich.

 

Weil bei Frau X  eine Enkopresis ohne Obstipation vorlag, waren Laxantine jedoch kontraindiziert. Sie hätten zu einer Verschlechterung der Symptomatik führen können. Sie sollten daher nicht gegeben werden. Bei Enkopresis ohne Obstipation reduzieren sich deshalb die Schritte auf:

 

  1. Psychoedukation
  2. Erhaltungstherapie mit verhaltenstherapeutischen Strukturen.

 

Bei Enkopresis sind nicht effektiv:

Biofeedback und allgemeine tiefenpsychologische oder nicht direktive Psycho­therapien. Selbst zusätzliche psychodynamische Kurzzeitpsychotherapien bringen keinen Vorteil. Das Mittel der therapeutischen Wahl ist die Verhaltenstherapie.

 

Die genetischen und anamnestischen Aspekte bei Frau X bzw. bei vielen Menschen mit Behinderung:

-         Sie hatten immer schon Phasen, in denen sie weniger einkoteten und einnässten,

-         die Blase ist  oft zu klein; vermutlich ist das auch ein Grund für das Einnässen, neben der mangelnden Konditionierungs­fähigkeit aufgrund der geistigen Behinderung. Das bedeutet: Regeln können nicht im Gedächtnis abgelegt werden,  

-         Stress ist mit vermehrtem Einnässen verbunden,

-         Bei den Toilettengängen wurde Frau X  begleitet,

-         Windeln müssen zeitweise verwendet werden,

-         Gehemmte Aggression ist oft ein Grund fürs Einkoten, auch in diesem Fall (familärer Stress). 

-         Organisch gab es (außer der zu kleinen Blase) nach mehreren medizinischen Unter­suchungen keine Hinweise auf organische Ursachen,

-         Vorhandene Amenorrhoe (Ausbleiben der Regel), auch ein „Zurückhalten“  aus psychologischer Sicht“,

-         Enuresis hängt oft mit Störungen der Blasenfunktion zusammen,

-         Der genetische Faktor ist recht hoch; es besteht eine familiäre Häufung,

-         Frau X hat eine Aufmerksamkeitsstörung, vermutlich auch mit Hyper­aktivität. Diese mangelnde Reizverarbeitung betrifft auch immer die Blase und den Darm.

-         Durchführung eines 24stündigen Miktionsprotokolls,

-         Es bestand keine Enuresis-nocturna,

-         Windeln können psychologisch auch entlastend wirken,

-         Einsatz von Oxibotinin zum Ausgleich des antidioretischen Hormons (ADH),

-         Analyse des Fragebogens zur Enkopresis.

-         Kontrollierte Aggressionsäußerungen fördern (aktiver Sport, Bewegung etc.)

 

Ergebnis des Fragebogen zur Enkopresis von Frau X:

-         Frau X kotete tagsüber ein.

-         Die Frequenz war unterschiedlich, mal jeden Tag, mal alle drei Wochen.

-         Die Einkotsymptomatik - Konsistenz - war zumeist stuhlschmierend.

-         Die Beschaffenheit des Stuhls war weich (also keine Verstopfung).

-         Frau  X kotete generell bei Frustrationen und Anlässen jeder Art ein, oft im Streit.

-         Das Einkoten ist deutlich häufiger als das Einnässen.

-         Es gab immer wieder saubere Phasen und Rückfälle.

-         Frau X brauchte nur gelegentlich Windeln. 

-         Man musste Frau X sehr oft auffordern, zur Toilette zugehen.

-         Sie ging immer zu den Pausen zur Toilette.

-         Frau X merkte, wenn sie eingekotet hat, und sagt das dann auch.

-         Die Anwesenden merken es nicht.

-         Nach dem Einkoten zeigt Frau X keinerlei Reaktion.

-         Sie selber entfernte den Kot aus ihrer Kleidung.

-         Sie leidet offensichtlich nicht unter dem Einkoten, trotz Hänseleien.

-         Frau X ging nicht auf die Toilette, obwohl sie es eigentlich muste.

-         Typischerweise presste sie die Beine zusammen, wenn sie zur Toilette muss.

-         Als Sportart wurde  Rücken-fit durchgeführt.

-         Sie wurde wegen ihres Einkotens nie untersucht.

-         Zuhause kotete Frau X tagsüber nicht ein, auch nachts nicht.

-         Das Einkoten trat eindeutig in belastenden Situationen auf,

-         Frau X konnte den Kot recht lange halten, dagegen nicht den Urin.

-         Zuhause trug sie gegen das Einnässen Einlagen.  Die pädagogische Begleitung musste sie zu Toilettengängen aufforden, sie ging dann sofort zur Toilette nahm sich auch Zeit dafür. In der Regel dauert der Toiletten­gang fünf Minuten, sie verspürte aber Schmerzen  (Blähungen und Bauchschmerzen)beim Stuhlgang.  Nach dem Stuhlgang trat aber bezüglich der Blähungen eine Besserung auf.

-         Frau X leidet generell unter Blähungen. Sie sagte nicht, wenn sie in eingekotet hatte. Sie ver­suchte aber auch nicht, es zu verbergen. Sie verhielt sich unauffällig.

-         Zuhause kotete sie nicht ein, sie nässte nur ein.

-         Sie geht sehr häufig auf die Toilette, um Wasser zu lassen.

-         Sie nässt ein- bis zweimal in der Woche ein.

-         Frau X muss sich besonders beeilen, die Toilette zu erreichen, wenn sie Harn­drang hat.

-         Sie trinkt sehr viel Wasser am Tag und isst auch ballaststoffreiche Nahrungs­mittel.

-         Sie treibt auch regelmäßig Sport.

Ergebnisse und Interpretation 

Wir finden in diesem Fallbeispiel Grundsätzliches: Ein sich gegenseitig bedingtes körperlich-psychisches Geschehen. Organische Ursachen beeinflussen physische  und psychische Funktionen. Da ist vor allem die geistige Behinderung von Frau X. Heute zeigen neue molukulargenetische Untersuchungen (z. B. Max-Planck-Institut für Molukulargenetik Berlin), dass mehr  Formen der geistigen Behinderung  genetische Ursachen haben, als bisher angenommen. Die genetischen Veränderungen beeinträchtigen von Anfang an auch die Fähigkeit, Reize zu verbinden, Filter einzurichten, Konditionierungsvorgänge  - volle Blase/Darm  > Toilette - in Gang zu setzen und als lebenspraktische Anpassungsleistung durchzuführen. In Verbindung damit fördert eine zu kleine Blase bei Frau X eine Enuresis. Streß löst eine Kaskade aus organischen Ursachen, Informationsverarbeitungsstörungen und mangelnden sozialen Fertigkeiten aus.

Senso-motorische Fähigkeiten, Ablaufmuster (soziale Skills), die nicht entwickelt werden, können auch nicht im prozeduralen Gedächtnis abspeichert werden. Weil Frau X Reizsituationen nur schlecht verarbeiten kann und die Reizverarbeitung verlangsamt ist,  ist das  priming (die biologische Prägung) wenig ausgeprägt, welches das Erkennen von Reizen erleichtert und beschleunigt (darum die Verlangsamung bei Menschen mit einer geistigen Behinderung). Wir sehen, welche enormen neuropsychologischen Folgen eine geistige Behinderung hat.

   An Maßnahmen für Frau X wurden Medikamente für die zu kleine Blase und für die Blähungen verordnet. Das Toilettentraining bestand nur in der Aufforderung zum Toilettengang. Windeln werden weiterhin nur bei Bedarf  genommen,  die Flüssigkeitszufuhr wird überwacht.  Wegen der Konditionierungsschwäche kamen keine weiteren verhaltenstherapeutischen Schritte in Frage. Hier wurde das erreichte Verhaltensniveau akzeptiert. Großen Wert wurde auf die Streßreduzierung bzw. auf die Stressbewältigung gelegt: Streitgkeiten, Hänseleien, Beziehungen kamen stärker zur Sprache. 

Der Fragebogen hat sich bewährt. Er ist ein Beispiel für das grundsätzliche Vorgehen auch bei anderen Problemen: 1. Organische Ursachen abklären. 2. Psychische Störungen beschreiben. 3. Soziale Strukturen nachgehen -  genau in dieser Reihenfolge! Das alte Sesamstraßenlied beschreibt treffend die praktisch erprobte fragende Vorgehensweise: Wer, wie (!), was (!), wieso, weshalb, warum - auch genau in dieser Reihenfolge!

Dr. Klaus Gehling/Nov. 2011.